02.05.2025

Taiwan Today

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Was heißt "ein Land, zwei Systeme"?

01.04.1997
Erstes Fernsehinterview mit einem Europäer: Am 24. Januar begrüßt der Präsident der Republik China den ARD-Journalisten Robert Hetkämper in seinem Amtssitz in Taipei.
In den deutschen Medien sieht man ihn nicht oft. Doch am späten Abend des 3. Februar erschien Lee Teng-hui, Präsident der Republik China, auf den Fernsehschirmen der Bundesrepublik.

Volle dreißig Minuten beantwortete der 74jährige in Taipei Fragen des NDR-Journalisten und Ostasienkorrespondenten der ARD, Robert Hetkämper, über die Beziehungen der Republik China zu Festlandchina und zur Bundesrepublik Deutschland. Es war das erste Fernsehinterview, das Lee jemals einem europäischen Sender gewährte, und sein bisher längstes TV-Interview mit einer ausländischen Fernsehstation überhaupt.

Lee ist seit den Präsidentschaftswahlen vom 23. März vergangenen Jahres der erste frei gewählte Präsident der Republik China. Weltweites Aufsehen erregten jedoch mehr die Begleiterscheinungen der Wahl. In dem Bemühen, den Ausgang der Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen, führte die Volksrepublik China in den Wochen vor der Wahl Militärmanöver durch und feuerte unweit der Insel Raketen ab. Peking wirft Lee vor, eine Unabhängigkeitspolitik zu betreiben, ein Vorwurf, der von der Regierung der Republik China immer wieder aufs entschiedenste zurückgewiesen wurde. Trotz der militärischen Einschüchterungsversuche der Kommunisten konnte Lee mit seinem Vizekandidaten Lien Chan, 61, auf Anhieb 54 % der Stimmen auf sich vereinigen.

Seitdem ist es in der internationalen Medienlandschaft um Taiwan wieder recht still geworden. Obwohl die unmittelbare Gefahr eines militärischen Übergriffs der Volksrepublik gegen Taiwan momentan gebannt scheint, so ist doch der politische Graben zwischen beiden Seiten unverändert tief. Lee nahm bei der Beschreibung des Verhältnisses zu Peking auch kein Blatt vor den Mund.

Lee stellte unmißverständlich klar, daß eine Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland unter der Formel "ein Land, zwei Systeme", wie sie der am 19. Februar verstorbene Deng Xiaoping im Jahre 1984 für Hong Kong aufgestellt hatte, nicht in Frage komme. Die Formel sei unklar, da nicht daraus hervorgehe, ob mit "ein Land" die Volksrepublik China oder die Republik China gemeint sei. Die von der Republik China angestrebte Wiedervereinigung könne nur in einem freiheitlichen und demokratischen System stattfinden. Um die politische Spannung zwischen beiden Seiten zu entschärfen und eine harmonische Dialogatmosphäre zu schaffen, habe Taiwan offiziell und einseitig einen Gewaltverzicht verkündet, im Gegensatz zu Peking.

Präsident Lee bekräftigt den einseitigen Gewaltverzicht der Republik China und drückt die Hoffnung aus, die China-Frage im Einvernehmen mit Peking friedlich lösen zu können.

Kurzfristig sei nicht mit einem militärischen Konflikt mit dem Festland zu rechnen, sagte Lee in dem Interview. Langfristig könne man das jedoch nicht beurteilen. Bei dieser Gelegenheit bekräftigte Präsident Lee das Interesse der Republik China an dem Erwerb deutscher U-Boote. "Im Falle eines militärischen Angriffs fürchtet die Republik China am meisten eine Seeblockade. Daher sind U-Boote für die Verteidigung der Republik China lebenswichtig", betonte Lee.

Zu den Beziehungen der Republik China zur Bundesrepublik Deutschland erklärte Lee, Deutschand unterhalte diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China und erkenne die Republik China nicht als souveränen Staat an. Diese politischen Einschränkungen wirkten sich negativ auf alle anderen Aspekte der Beziehungen, z. B. Wirtschaft und Kultur, aus. Lee forderte die Bundesregierung auf, ihre Haltung der Republik China gegenüber noch einmal zu überdenken, und lud deutsche Politiker und Abgeordnete nach Taiwan ein, um sich an Ort und Stelle ein Bild von der demokratischen Entwicklung machen zu können.

Lee widersprach der in den Medien oft vertretenen Auffassung, daß westliche Wertvorstellungen wie etwa Demokratie nicht auf Asien übertragbar seien. Die demokratischen Reformen der Republik China waren ein großer Erfolg, und der Demokratisierungsprozeß in Taiwan sei unblutig verlaufen. Freiheit und Humanismus seien durchaus auch chinesische Werte.

Der Präsident warnte ausländische Investoren vor zu großen Hoffnungen in den Markt Festlandchinas. Die Wirtschaftsentwicklung in Festlandchina hätte es ohne ausländisches Kapital und Technologie nicht gegeben, und wie lange der Aufstieg noch andauern würde, könne man nicht wissen. Außerdem müßten Investoren "immer in der Ungewißheit leben, daß die Volksrepublik China von heute auf morgen ihre Politik verändern könnte", meinte Lee. Auf der anderen Seite bestünde die Gefahr, daß Festlandchina dank des Wirtschaftsaufstiegs sein Militärpotential vergrößern werde, was für Asien und die ganze Welt zu einer Bedrohung werden könnte. Angesichts der großen Nationalismuskampagne Pekings rief Lee die Welt zu erhöhter Wachsamkeit auf. Das Interview der ARD mit dem Präsidenten der Republik China fand auch seinen Widerhall in der internationalen Presse.

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